D. Walser-Wilhelm u.a. (Hrsg.): Bonstettiana

: Bonstettiana. Historisch-kritische Ausgabe der Briefkorrespondenzen Karl Viktor von Bonstettens und seines Kreises 1753-1832. Bern 2000 : Peter Lang/Bern, ISBN 978-3-906758-46-6

Walser-Wilhelm, Doris; Peter, Walser-Wilhelm; Anja, Höfler (Hrsg.): Bonstettiana. Karl Viktor von Bonstetten, Charles Victor de Bonstetten: Schriften [1762 – 1831]. Göttingen 2002 : Wallstein Verlag, ISBN 978-3-89244-578-4

Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Marianne Derron Corbellari

Wer vor den 24 Bänden der Bonstettiana-Ausgabe steht, 1 weiss kaum, welchen Teil er als ersten zur Hand nehmen soll.2 Denn im Grunde handelt es sich nicht um eine kommentierte Edition, sondern um eine ganze Welt: die Welt eines Berner Patriziers, der den grössten Teil seines Lebens ausserhalb seiner Heimatstadt verbrachte, dem das Französische geläufiger war als das Deutsche und der die wechselvolle Epoche der Sattelzeit in all ihren Facetten miterlebte. Gefühle lähmender Versteinerung, ja der Dekadenz im Alten Bern, aufklärerische Aufbruchsstimmung und liberaler Fortschrittsglaube um 1800, Nostalgie und Resignation in der Restauration, aber auch Hoffnung auf bessere Zeiten nach 1830 prägten Karl Viktor von Bonstetten, während er seine Verwaltungsämter ausübte, sich mit europäischen Geistesgrössen (Germaine de Staël, Lord Byron, Pellegrino Rossi) austauschte oder auf Reisen im Ausland (Italien, Frankreich, Dänemark) war.

Dass es den Hauptherausgebern und Initianten des Projektes, Doris und Peter Walser-Wilhelm, nicht nur um die Schriftzeugnisse eines exemplarischen Zeitgenossen ging, machten sie bereits mit der Wahl ihres Titels klar. So enthält die violette Reihe Bonstettens Korrespondenz samt den Gegenbriefen seiner Bekannten. Da seine Briefpartnerinnen und -partner in ganz Europa lebten, kann man sich vor dem Rechercheaufwand in zahlreichen ausländischen Archiven und Bibliotheken nur verneigen, und es erstaunt nicht, dass zwischen Inangriffnahme der Edition und dem Erscheinen des ersten Bandes ganze 16 Jahre verflossen. Eine sorgfältige, kommentierte Ausgabe dieses Umfangs beschäftigt notwendigerweise eine gesamte Forschergeneration (1980 bis 2011).3 Trotz den langen Vorarbeiten war es unvermeidlich, Nachträge in die Folgebände einzufügen: Zu dem Bekannten gesellten sich unverhoffte Funde, und gewisse Archive öffneten den Forschern ihre Tore erst im Laufe der Zeit.4 Dennoch ist der Anspruch, das Leben eines Mannes in seiner ganzen Fülle wiederzugeben, ein (zu) grosser. In anderen Worten: Die Essenz der Bonstettiana, nämlich das Leben Karl von Bonstettens im Dialog mit seinen Zeitgenossen darzustellen, birgt auch ein willkürliches Element.5

Jeder Band ist mit einer Einleitung ausgestattet, die den Leser mit historischen, rezeptionsgeschichtlichen, biografischen und editorischen Informationen versorgt. Die einzelnen Bandteile sind zur besseren inhaltlichen Übersichtlichkeit wiederum gesondert eingeleitet (besonders gelungen: die Band- und Zwischentitel). Sehr zu begrüssen ist, dass Text und Kommentar in einem Band vereint sind und der Stellenkommentar in Anmerkungen auf der jeweiligen Seite figuriert. Der Kommentar nimmt den Leser zweifellos ernst, denn er setzt – trotz den Einleitungen, Zeittafeln und anderen Grafiken6 – sehr viel Wissen über die Epoche, auch mentalitäts- und literaturgeschichtliches (groupe de Coppet!), voraus. Der Stellenkommentar liefert in erster Linie biografische Hinweise, in der Korrespondenz editorische Details (Standort, Kontext der Briefbeziehung), sofern nicht im Lauftext selbst vermerkt, manchmal Erläuterungen zu Zeitereignissen. Geografisches und Realia (bei den Reisen von Bonstettens nicht unerheblich) werden grundsätzlich nicht kommentiert. Dies soll nun den Bonstettiana keineswegs als Mangel angekreidet werden, ganz im Gegenteil: Es wäre angesichts heutiger elektronischer Nachschlagewerke überflüssig, jedes Detail, das Fragen aufwerfen könnte, zu kommentieren, oder mit anderen Worten: Ein guter Kommentar zeichnet sich auch durch den Mut zur Lücke aus.

Grosse Bewunderung verdient die Tatsache, dass es sich bei den Bonstettiana um ein zweisprachiges Unterfangen handelt.7 Über die Hälfte der Texte ist auf Französisch verfasst, einige sind für die Ausgabe eigens auf Deutsch übersetzt worden (Hauptmitarbeiterin für die französischen Texte: Antje Kolde). Auf der Textebene ist die Zweisprachigkeit jedoch Genuss und Qual zugleich: Karl von Bonstetten war ein sehr typischer Bilingue, das heisst, er drückte sich in beiden Sprachen mangelhaft aus. So liegen zwischen der Privatkorrespondenz Bonstettens und seinen gedruckten Werken sprachliche Welten: Letztere sind vor dem Druck ganz offensichtlich stilistisch, grammatikalisch und orthografisch überarbeitet worden. Erst nach der Überarbeitung wird verständlich, weshalb der Literaturkritiker Charles-Augustin Sainte-Beuve ihm hohes Lob zollte («on n’écrit pas mieux en français»). Die Lektüre der privaten Briefe hingegen erweist sich oft als Hürdenlauf wegen der mangelnden Zeichensetzung, Satzteilen wie «etsurtout cetoubli de notre dignité, de notre Selbstandigkeit» und Wortungetümen wie «etoitde feuetdesang».8 Ob es Karl von Bonstetten gutgeheissen hätte, seine Schriften in diesem Zustand zu publizieren, bleibe dahingestellt!

Wird ein kurzer Text nach dem Prinzip des diplomatischen Abdrucks («Ist-Zustand» des Textes) ediert, stellt dies an den Leser nicht allzu viele Herausforderungen. Liegen aber mehrere Briefbände buchstaben- und zeichengetreu vor, erfordert die Lektüre einen buchstäblich langen Atem. Die Korrespondenz Bonstettens und vieler seiner Briefpartner sind vielmehr als Causerie, als spontanes Briefgespräch denn als Schriftstück zu lesen.9 Die Folgen der Zweisprachigkeit und der «mündlichen Schriftlichkeit» der Briefe für die Edition werden in der exzellenten Einleitung des ersten Korrespondenzbandes erläutert. Auffallend ist, dass die Briefe an den Vater (auf Französisch) viel korrekter sind, als hätte sich der Respekt vor dem Adressaten auf die Rechtschreibung ausgewirkt. Dasselbe gilt freilich auch für die Briefe, die nicht nach den Originalen, sondern nach früheren Ausgaben ediert wurden. Nun sind solche editorischen Überlegungen auch Glaubenssache, und ein Briefband wird nicht wie ein Roman von A bis Z gelesen. Aber die Korrektureingriffe werden nicht immer einheitlich durchgeführt. So schreibt Bonstetten an seinen Freund, den Historiker Johann von Müller, ziemlich nachlässig: «Ne negliges rien, mais songez … qu’ils avoientfaits une Sottise… faittes reparation à Fuesly [Füssli] .»10 Im selben Band schreibt Charles Bonnet an Karl von Bonstetten, und zwar viel korrekter; trotzdem werden dessen wenige Fehler nun im Apparat korrigiert. Gewisse textliche Wiederholungen waren wohl nicht zu vermeiden (ausführliche Zitate aus Briefen, die schon in einem anderen Band ganz abgedruckt sind). Schliesslich kann sich die Leserin eines gewissen Gefühls der Verlorenheit in der Masse nicht erwehren, wenn sie zum Beispiel nach einer Abkürzung sucht, die im vorliegenden Band partout nicht erklärt wird.

Höchstens Genuss verschaffen Bonstettens Aufzeichnungen, wenn sich das polyglotte Umfeld in dessen sprachlicher Spontaneität niederschlägt und dessen weitgespannte Welt dem Leser so recht bewusst wird: «ich war allein […] einen ganzen Abend in Coppet bei der Stael mit Ihrer schonen Tochter [Albertine, Tochter Benjamin Constants] duchesse de Broglie Alles sprühte um uns von Wiz und Munterkeit, die Stael überflog alle. Ich kann kein Geschopf mit Byron vergleichen. Seine Stimme ist die eines Engels, auch alle seine Zuge, doch blizt ein kleiner Satan durch, der doch halb from ist. Die Stael sage mir Vous et Byron vous vous ressemblez beaucoup, excepté que vous etez bon, et que lui est un Diable.»11

So schwer man sich entschliessen kann, mit welchem Band man beginnen soll, so schwer fällt es dem Leser, die Lektüre beiseitezulegen: Schlicht überwältigend ist die Fülle der Materialien und der Kenntnisse, in die man Einblick gewinnt. Karl von Bonstetten, geprägt von seinem Mentor, dem Naturwissenschaftler Charles Bonnet, war noch ein Polyhistor vom alten Schlag, dessen Interesse vielfältigsten Disziplinen galt (Linguistik, Ethnologie, Physik, Ökonomie usw.). In seinen Schriften untersucht er, ganz Mann seiner Zeit, zahlreiche gemeinnützige, sogenannte volksaufklärerische Themen wie Erziehung und Armenwesen. Die Bonstettiana stellen historische und literarische Quellen zur Verfügung, die anderen Editionsprojekten noch wertvolle Dienste erweisen werden. Dabei sei nicht vergessen: Karl von Bonstetten war privilegiert punkto familiärer Herkunft, Bildung und Geld; er konnte reisen und die Welt entdecken. Gerade seine Briefkorrespondenz zeigt in aller Deutlichkeit einzig die Welt der Schönen und Reichen. Als er Rom besuchte, dinierte er selbstverständlich mit dem schottischen Thronprätendenten Charles-Edward Stuart («Bonnie Prince Charlie») und erlaubte sich sogar einen Flirt mit dessen Gattin. Das Institut Philipp Emanuel Fellenbergs in Hofwil bei Bern empfahl er mehrmals – adligen Familien, die der Erziehung ihrer Söhne den letzten Schliff geben wollten, keineswegs armen Schluckern, die sich nachher in einer Dorfschule mit Bauernkindern abgemüht hätten.12 Umso lieber stösst man auf Zeugnisse von Bonstettens zum Besuch Johann Pestalozzis im Berner Oberland und seine Würdigung von Pestalozzis Roman Lienhart und Gertrud.13 Schliesslich sind Bonstettens Schriften allein deshalb beeindruckend, weil sie ein Beziehungsgeflecht enthüllen, angesichts dessen man heute trotz aller sozialen Medien vor Neid nur erblassen kann.

1 Die Ausgabe wird von einer Internetseite begleitet: www.bonstettiana.ch; sehr begrüssenswert sind hier elektronisch abrufbare Registerbände. Die Bonstettiana zeigen damit, wie sich traditionelle (Buchform) und moderne Mittel (digitaler Support) fruchtbar verbinden können und müssen.
2 Kurt Kloocke veröffentlichte zwischen 1997 und 2012 in den Annales Benjamin Constant Rezensionen zu einzelnen Bänden; vgl. Ders.: «Bonstetten, cosmopolite philosophe. Introduction». Oeuvres & Critiques XXXVII,2 (2012), S. 3 – 6, bes. Anm. 4.
3 Dass die Ausgabe gelingen konnte, führen Doris und Peter Walser-Wilhelm massgeblich darauf zurück, dass sie sich auf ein relativ kleines, aber stabiles Mitarbeiterteam abstützen konnten und intensiven Kontakt zu anderen Editoren pflegten. – Ich danke den Hauptherausgebern herzlich für das mir gewährte, persönliche Gespräch.
4 Die Erben der Germaine de Staël z.B. gewährten Ende der 1990er-Jahre den Forschern noch kaum Zugang zum Nachlass ihrer Vorfahrin im Schloss Coppet.
5 So nahmen die Herausgeber auch Texte von Friederike Brun-Münter auf, die sie zwar nie an Bonstetten sandte, ihn darin aber (vielleicht?) ansprach; weiter Korrespondenz zwischen seinen Briefpartnern, Mietverträge von Bonstettens u. Ä.
6 Gestalterisch ist die eine oder andere Grafik nicht mehr auf modernstem Stand. Angesichts der Reisen von Bonstettens wäre u.U. eine Karte seiner Routen und Stationen wünschenswert gewesen.
7 Zählt man die italienischen Publikationen dazu, sogar dreisprachig: vgl. www.bonstettiana.ch, Ergänzende Publikationen.
8 Briefkorrespondenz XI,2, 634, S. 710.
9 Vgl. Briefkorrespondenz XI,2, S. 487.
10 Briefkorrespondenz IV,1, 17 und S. 372.
11 Briefkorrespondenz XI,2, S. 672.
12 Vgl. Briefkorrespondenz XI,2, 688.
13 L’homme du Midi et l’homme du Nord. 1810 – 1826. Erster Teilband, S. 312 und Anm. 61 (De l’Education des Bernois); Briefkorrespondenz XI,2, S. 950 und Anm. 58.

Zitierweise:
Marianne Derron Corbellari: Rezension zu: Bonstettiana. Historisch-kritische Ausgabe der Briefkorrespondenzen Karl Viktor von Bonstettens und seines Kreises [1753 – 1832]. Hrsg. von Doris und Peter Walser-Wilhelm, Heinz Graber, unter Mitarbeit von Antje Kolde, Anja Höfler, Regula Walser. 14 Bde. Bern: Peter Lang (Bde. 1 – 3, 6 – 8) und Göttingen: Wallstein Verlag (Bde. 4f., 9–14) 1996 – 2011. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 76 Nr. 3, 2014, S. 77-80.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 76 Nr. 3, 2014, S. 77-80.

Weitere Informationen
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen